Michael Craig-Martin
Present Tense
26.08.2016 - 5.11.2016
Am Morgen rasch ein Coffee to go. Die kleine Müdigkeit am Mittag vertreibt ein Espresso aus der Kapselkaffeemaschine. Zwischendurch, allen Diät-Gedanken zum Trotz, eine Portion Pommes einer bekannten Fastfood-Kette. Und falls die Lust am Abend zur Last wird, liegt eine kleine Pille schon bereit.
Eine Begegnung mit den Werken von Michael Craig-Martin ist eine Begegnung mit dem eigenen Alltag, unserer gelebten, von Werbung überhöhten Lebenskultur. Man begegnet Farbrollern, Turnschuhen, Kaffeebechern, Dingen, die jeder kennt, fast jeder benutzt. Und von denen jede weiss, für welchen Lifestyle sie stehen. Michael Craig-Martin macht gewöhnliche Gebrauchsobjekte zu Sujets seiner Bilder und Zeichnungen: stark abstrahiert, doch leicht wieder erkennbar. In ihrer extrem reduzierten Darstellungsform, die auf klare Linien und kontrastierende Flächen setzt, sind diese Bilder nahe am Piktogramm. Es sind Zeichen. Mit seinem Werk erschafft Michael Craig-Martin ein Alphabet der Warenwelt.
Michael Craig-Martin (*1941 in Dublin, aufgewachsen in den USA, lebt und arbeitet in London) ist einer der wichtigsten angelsächsischen Künstler seiner Generation. Viele Jahre hat der irisch-britische Künstler am renommierten Goldsmith’s College in London unterrichtet und gilt als eine der prägenden Figuren für die Generation der „Young British Artists“.
Seine Arbeiten – Zeichnungen, Malereien, Skulpturen – befinden sich in den Sammlungen internationaler Museen wie dem Museum of Modern Art in New York, dem Centre Pompidou in Paris und der Tate Gallery in London. Weltweit hat Craig-Martin grossformatige Arbeiten für den öffentlichen Raum geschaffen: Zu den wohl bekanntesten gehört „Cascade“, die 2007 realisierte Bemalung von Mietshäusern am Boulevard Virgile Barel in Nizza.
Ende der 1970er Jahre begann Michael Craig-Martin maschinell gefertigte Gebrauchsgegenstände in Bildern und Zeichnungen zu gestalten. „Ich wählte sie, weil sie für mich eine wirklich universelle Sprache der modernen Welt bildeten“, sagte er selbst einmal über seine Motivwahl. „Die Objekte waren so allgegenwärtig, dass sie unsichtbar geworden waren und keinen besonderen Wert hatten.“ Es liegt eine kühne Raffinesse darin, unscheinbare Utensilien zu Zeitzeugen zu erheben, neigt man doch leicht dazu, herausragenden Objekten wie Marcel Breuers Freischwinger oder dem Sessel LC2 von Le Corbusier (Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand) eine besondere Aussagekraft über ihre Zeit und Zeitgenossen zuzusprechen.
Doch Michael Craig-Martin erzählt von Messern, Toastern, Taschenlampen. Ähnlich wie der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor in seinem Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ anhand berühmter Kunstwerke und banaler Alltagsobjekte vom Leben in der Vergangenheit erzählt, berichtet Michael Craig Martin mit seinen formelhaften Gegenständen von der Gegenwart. Mit seinem Alphabet der Warenwelt porträtiert er eine Gesellschaft, indem er ihr gemeinsames materielles Fundament dokumentiert. Auch Einzelporträts, wie zum Beispiel ein Selbstporträt, entstehen aus diesem Blick heraus, der das Individuum als Summe der von ihm benutzten und angesammelten Objekte wahrnimmt: Du bist, was Du besitzt.
Michael Craig-Martin setzt die maschinell gefertigten Objekte in auf das Wesentliche reduzierte Umrisszeichnungen um, die ebenfalls sehr unpersönlich wirken. In besonderem Mass gilt dies für seine Zeichnungen mit breiten Linien aus dunklem Klebeband, das auf Wände oder Bildträger aufgetragen wird und an technische Herstellungsprozesse erinnert. In den in Acrylfarbe auf Leinwand oder Aluminium ausgeführten Gemälden kommen intensiv farbige Flächen hinzu, die keinerlei Bearbeitungsspuren zeigen.
In seinen jüngsten Werken setzt Craig-Martin die Alltagsobjekte nicht länger vor einen neutral schwarzen Hintergrund, der an Stillleben des 17. Jahrhunderts denken lässt. Motive und Hintergrund sind heute in poppig-lauten, aber kühlen Farben gestaltet. Zudem zoomt der Künstler die Objekte heran: Kaffeebecher, Laptop, Turnschuh sind nur noch in Ausschnitten zu sehen – und bleiben dennoch unverkennbar.
Eine Begegnung mit dem Werk Michael Craig-Martins ist eine Begegnung mit der eigenen grossen Verbundenheit mit den kleinen Dingen des Alltags.
Alice Henkes
Biography
Medienmitteilung
'Alphabet der Waren,' Handelszeitung, Nr. 35, 1. September 2016